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- WWF Tigerprojekt
Das Ende des Tigers
Alle Schönheit rettet ihn nicht. Der indische Dschungelkönig wird gnadenlos abgeschlachtet. Wilderer verwursten ihn zu Potenzmitteln. Holzdiebe und Bodenspekulanten zerstören sein grünes Reich. Verschnarchte Tierschützer und korrupte Wildlife-Bürokraten schauen tatenlos zu
Der König des Dschungels ist schlecht gelaunt. Verdrossen liegt der große Tiger in einem Büschel braun gedörrten Schilfgrases, das sich zeltförmig über ihm schließt und ihm Rückendeckung gibt. Fünf Meter schräg dahinter kuscheln sich in einem ähnlichen Notversteck zwei bernhardinergroße Tigerkinder an ihre Mutter. In weitem Umkreis um die beiden Nester ist das Gras wie mit Planierraupen platt gewalzt. Denn seit gut einer Stunde tobt hier schon die "Tiger-Show".
Auf sechs Elefanten, die der Katzenfamilie in der Morgendämmerung den Weg in den nahen Wald abgeschnitten und sie in der kleinen Senke im zentralindischen Kanha-Nationalpark eingekesselt haben, schaukeln von der nahen Straße im Zehnminutentakt geballte Ladungen von Tiger-Touris heran. Blitzlichter zucken, Äste knacken, Mahouts brüllen Kommandos und dreschen mit Stöcken auf ihre staubigen Dickhäuter ein. Dralle Inderinnen in grellen Saris schnattern verzückt, aufgescheuchte Pfauen kreischen und Elefantenfürze grollen wie Vulkaneruptionen.
DIE DSCHUNGELMAJESTÄT liegt in all ihrer schwarz-weiß-braunen Pracht mitten im Radau. Hoheit ist ungnädig, aber hilflos. Dabei gilt gerade dieser Tiger als besonders wild. Die Einheimischen haben ihm den Namen "Churi Bahadur" gegeben - Held von Churi. Denn die über drei Meter lange und rund vier Zentner schwere Raubkatze wagt sich selbst an die gewaltigen Gaurs heran, bisongroße Wildrinder mit ein Meter langen Hörnern, zwei Meter Schulterhöhe und fast einer Tonne Gewicht.
Noch vor ein paar Stunden hat der Kämpfer sein Revier und auch seine Jungen gegen einen anderen Tiger verteidigt. Knapp hinter den tellergroßen Pranken klaffen im goldenen Fell seiner Vorderläufe blutige Löcher.
Die Streifenkatze hebt ihren mächtigen Schädel und fixiert die Eindringlinge aus kaum drei Meter Entfernung mit ihren flaschengrünen Aristokratenaugen. Im Blick mischen sich Kühnheit, Würde und Unbeugsamkeit mit Resignation. Der König ist zum Entertainer abgestiegen.
Bis elf Uhr muss Churi Bahadur im Freiluftzoo auftreten. Erst wenn ihn 150 bis 200 Besucher beäugt haben, hat er Dienstschluss und kann die Keule der in der vergangenen Nacht gerissenen Antilope in Ruhe verdauen. Döst er während der Vorstellung ein, lassen die Mahouts für ein wenig Trinkgeld ihre Elefanten Bambusstangen knicken. Das splitternde Krachen, das an Schüsse erinnert, schreckt den Tiger immer wieder hoch. Shir Khan soll auf den Erinnerungsfotos nicht schlapp, sondern grimmig aussehen.
Manche Touristen, sagen die Elefantenlenker, werfen den Raubtieren sogar Biskuits zu. Spaß muss sein; schließlich kostet das Extra-Ticket für die Show 60 Rupien, so viel wie ein Mittagessen. Ausländer zahlen das Fünffache.
DIE DISNEYLANDISIERUNG der Tiger finden Puristen unerträglich. Doch für Churi Bahadur und das kleine Häuflein bengalischer Tiger, das sich ins 21. Jahrhundert hinübergerettet hat, ist ein elender Tod die einzige Alternative zur Show. Denn jedes Jahr werden Hunderte der schönen Großkatzen vergiftet, in Fallen gefangen und erschossen. Als "Tigerwein" oder eines von vielen genauso dubiosen wie teuren chinesischen Heilpülverchen landen ihre Überreste dann in Apotheken von San Francisco, Shanghai oder Birmingham.
Mit dem indischen Königstiger geht es zu Ende. Das 1973 von Premierministerin Indira Gandhi mit großem Tamtam ins Leben gerufene Rettungsprogramm "Project Tiger" ist in einem Morast aus Korruption, Inkompetenz, Schlafmützigkeit, Geldgier und ökologischer Ignoranz versunken. Die staatlichen Fördermittel versickern zumeist, bevor sie die Reservate erreichen, und die internationalen Tierschutzorganisationen, die mit "Rettet den Tiger"-Kampagnen Milliarden scheffeln, lassen nur Almosen springen.
Von der Politik ignoriert, schlampig verwaltet, bankrott, von Freischärlerarmeen und Verbrechersyndikaten belagert, sind die meisten indischen Tiger-Schutzgebiete seit Anfang der 90er Jahre zu Schlachtfeldern geworden, auf denen nicht nur Raubkatzen, sondern auch Wildhüter ihr Leben lassen. Nach Recherchen des "Tiger-Papstes" Valmik Thapar hat Indien seit 1990 rund 1750 Tiger verloren. Der rauschebärtige Dokumentarfilmer: "Der König des Dschungels hat keine Chance, als wildes Tier zu überleben."
Rajesh Gopal, seit 1991 Direktor des Nationalparks Kanha, stemmt sich mit der "Tiger-Show" gegen den tödlichen Trend. Der 45-jährige Zoologe nutzt die Ressource, die er schützen will, zum Geldverdienen - Rupien für Wachelefanten und Patrouillenjeeps, Motorräder und Treibstoff, für Funkgeräte und die Löhne seiner 114 Ranger. Mit viel Engagement hat Gopal aus Kanha einen der drei Vorzeigeparks auf dem Subkontinent gemacht. In dem knapp 1000 Quadratkilometer großen Reservat und der ebenso großen Pufferzone leben schätzungsweise 120 Tiger. In diesem Jahr sind 28 Jungtiere geboren worden - Rekord.
HORROR REGIERT jedoch in den meisten Schutzgebieten zwischen Kerala und Rajasthan. Wie Schiffbrüchige, die auf kleinen Atollen in einem haiverseuchten Meer festsitzen, sind die Tiger in ihren Parks zwischen Straßen, Staudämmen, Industrieanlagen, Wasserwegen, Plantagen, Dörfern, Feldern und "menschenverseuchtem Gebiet" (Gopal) eingesperrt. In 80 Prozent der Reservate kümmern nach Recherchen der Londoner "Environmental Investigation Agency" (EIA) im Schnitt gerade mal zehn der schönen Streifenkatzen dahin - jämmerliche Reste einer einstmals gesunden Population, die wegen Inzucht und Überalterung bald verschwunden sein werden, sofern sich nicht vorher Wilderer ihrer erbarmen.
Seit Indira Gandhis Versprechen, dem bengalischen Tiger in Indien "für alle Zeit" eine sichere Heimat zu schaffen, ist sein Lebensraum von 300000 auf 150000 Quadratkilometer geschrumpft. Gleichzeitig haben sich die Menschen um rund 400 Millionen, die Rinder um 200 Millionen vermehrt. Offiziell geschützt sind die Königskatzen nur in 27 Reservaten mit rund 35 000 Quadratkilometern, wo angeblich etwa 1000 Tiger leben. Weitere 1000 werden außerhalb der Schutzzonen vermutet. Von den rund 40 000 Tieren, die 1900 durch Indiens Wälder pirschten, sind damit nur fünf Prozent übrig geblieben.
WIE AMTLICHER SCHUTZ abseits der Musterreservate aussieht, zeigt ein Besuch im Nationalpark Panna, zwölf bandscheibenmordende Autostunden von Kanha entfernt. Schläfrige Wachposten brauchen zu dritt geschlagene zehn Minuten, um den Preis des Tickets für Auto, Fahrer, Kameras und Führer auszurechnen. Die Bäume in dem 543 Quadratkilometer großen Schutzgebiet sehen wie zerfledderte Flaschenreiniger aus, so schlimm haben - illegale - Holz- und Laubsammler sie verstümmelt. Die löchrige Umfassungsmauer aus lose aufgeschichteten Bruchsteinen ist gerade mal einen Meter hoch.
Direkt am Rand des Nationalparks wummern Sprengungen aus dem Kraterschlund einer riesigen Diamantenmine. Dutzende gelber Monstertrucks kippen das Muttergestein Kimberlit zum Verwittern auf gewaltige Halden. Daneben Berge von rollsplittfeinem Abraum. Der Fluss Kemesan ist mit Chemikalien zugeschlammt. Das Werk, das seit 1993 keine gültige Betriebserlaubnis mehr besitzt, seine Karat-Ausbeute in diesem Jahr aber dennoch von 40 000 auf 65 000 steigern will, hat weder Absetztank noch Kläranlage.
Unter den Wildhütern von Panna herrscht Weltuntergangsstimmung. Gegen zwölf von ihnen läuft ein Mordprozess - seit neun Jahren. Einer von drei Holzdieben, die am 18. März 1991 nachts beim Schein brennender Autoreifen Teakbäume fällten, stürzte bei der Flucht vor dem nur mit Bambusstöcken bewaffneten Einsatztrupp in eine Schlucht und starb. Die beiden anderen gingen vor Gericht. Für Bestechung der Polizei und Anwaltskosten hat jeder der Guards, die mehrfach in den Wald flüchten mussten, um ihrer Verhaftung zu entgehen, etwa 60 000 Rupien gezahlt, rund 2700 Mark. In Indien ist das ein Vermögen. Ein Wildhüter verdient in Panna umgerechnet 200 Mark brutto im Monat.
Forest Guard Ravi Shukla ist bettelarm, unglücklich, ratlos und bis in die Haarspitzen demotiviert. "Wir haben überall Hilfe gesucht, auch bei den Juristen der Regierung und beim Ministerpräsidenten unseres Staates Madhya Pradesh", sagt der 40-Jährige. "Aber niemand hat etwas für uns getan. Viele Tierschutzgruppen haben Unterstützung zugesagt, doch keine hat Wort gehalten. Ich bin kein Mörder; ich habe nur meine Pflicht getan." Seine Frau Kusum hat ihren ganzen Schmuck verkaufen müssen, den traditionellen Notgroschen der indischen Familie. "Wir haben nichts mehr. Aber das Schlimmste ist die jahrelange Ungewissheit. Sie macht mich fertig. Wenn ich ins Gefängnis muss - was passiert dann mit meiner Frau und meinen beiden Kindern?" Sollte Shukla heute Wilderer oder Holzdiebe ertappen, wird er aus lauter Angst vor neuem Ärger Fersengeld geben.
JURISTISCHE EINSCHÜCHTERUNG von Wildhütern hat auf dem Subkontinent Methode. Viele hundert Verfahren schmoren landesweit vor Gericht. Allein Nationalpark-Direktor Rajesh Gopal hat es mit "Dutzenden von Prozessen" zu tun. Fast jede Woche ist er irgendwo unterwegs, um für seine Mitarbeiter auszusagen.
Die Lage der Wildhüter und die Qualität ihrer Ausrüstung ist symptomatisch für die Situation des Tigers in Indien. Nach Ermittlungen der EIA besitzen 80 Prozent der Parks keine Truppe zur Wildererbekämpfung. Fahrzeuge, Ferngläser und Funksprechgeräte sind exotische Raritäten. Viele Guards arbeiten für einen Hungerlohn, der manchmal monatelang ausbleibt, und warten oft jahrzehntelang vergebens auf einen festen Anstellungsvertrag. Altersversorgung und Lebensversicherung sind in 90 Prozent der Parks Fremdwörter, und doch treten die Wildwächter nur mit dem Lahti (Stock) bewaffnet gegen äxteschwingende Holzdiebe und Wilderer mit Kalaschnikows an. Pro Jahr werden nach den Worten des Biologen Vivek Menon vom "Wildlife Trust of India" (WTI) mindestens 50 Ranger getötet.
"In einigen Reservaten gibt man den Wildhütern Karabiner aus dem Zweiten Weltkrieg mit drei Schuss Munition", sagt Menon. "Aber sie dürfen - falls sie dazu dann noch in der Lage sind - erst von ihrer Waffe Gebrauch machen, nachdem die Wilderer das Feuer eröffnet haben."
EIN SCHILDBÜRGERSTREICH der Extraklasse ist der Regierung von Bihar gelungen: Der Bundesstaat hat 507 hochmoderne Schnellfeuergewehre für seine Ranger gekauft, rückt sie aber nicht raus. Der Grund: Man hat Angst, dass die Waffen von Guerilleros erbeutet werden könnten. Deshalb dürfen die Gewehre erst ab einer Truppstärke von 29 Mann mitgeführt werden. Dazu fehlen aber die Leute, und so verstauben die Knarren im Arsenal.
"Aus Geldmangel ist bei uns knapp die Hälfte aller Wild- und Waldhüterstellen unbesetzt", wettert Valmik Thapar. "Und wie kommt der Geldmangel zustande? Der Weg jeder Rupie, die den Tigern zugute kommen soll, führt über 37 Bürokratenschreibtische. Da bleibt kaum etwas übrig." Viele arme Bundesstaaten trügen die Mittel aus dem Etat des "Project Tiger" zur Bank, um Festgeldzinsen zu verdienen oder missbrauchten sie als Sicherheit für Kredite. "Sie überweisen den Reservaten das Geld Ende März. Da das Finanzjahr aber am 31. März zu Ende geht, können die Parkchefs die Mittel nicht mehr ausgeben und müssen sie zurückschicken. Im nächsten Jahr wiederholt sich das Spielchen."
Weil die Kassen leer sind, mussten im Nationalpark Panna im März etwa 150 Wildhüter und Feuerposten (Durchschnittslohn: 83 Mark im Monat) entlassen werden. Der Tigerschützer Ashok Kumar von der "Wildlife Protection Society of India" (WPSI): "Das ist Irrsinn. Diese Leute sind mit den Tigern, ihrem Revier und ihren Gewohnheiten bestens vertraut. Aber wenn sie nicht verhungern wollen, haben sie gar keine Alternative, als selber Wilderer zu werden."
Auf dem Weltmarkt lassen sich mit einem Tigerkadaver zwischen 50 000 und 250 000 Dollar erlösen. Ein hungergeplagter indischer Bauer, der eine der Großkatzen mit einem selbst gebastelten Vorderlader, einer von Wanderschmieden für umgerechnet 15 Mark spezialangefertigten Schlagfalle oder Insektengift (zwei Mark die Dose) umbringt, erhält zwar meist nur 5000 bis 7000 Rupien (230 bis 320 Mark); davon kann er jedoch ein ganzes Jahr lang leben.
MIESE AUSRÜSTUNG, der Hungerlohn, die jammervolle Bewaffnung, die fehlende soziale Absicherung und eine entsprechend schlechte Motivation der meisten Wildschützer, dazu die institutionalisierte Korruption und das Fehlen eines nationalen Programms zur Wildererbekämpfung bringen den Tiger um. Doch auch die träge indische Justiz trägt ihren Teil zum Exitus des nationalen Wahrzeichens bei. "Der laxe Vollzug relativ guter Umweltgesetze zieht Verbrechersyndikate aus der ganzen Welt magisch an", schreibt Chefredakteur Bittu Sahgal in seiner Öko-Zeitschrift "Sanctuary". "Durch das Macht- und Kontrollvakuum führt man die Holzmafia und die Wilderersyndikate regelrecht in Versuchung", bestätigt Thapar. "Es ist, als ob man einen unbewachten Banktresor offen stehen ließe. Dazu kommt, dass unsere Richter Tigertötung einfach nicht ernst nehmen. In den vergangenen 20 Jahren sind nur zwei Wilderer hinter Gitter gekommen."
Die verzweifelte Lage des Tigers macht Prashanta Sen weder Bauchschmerzen noch verursacht sie ihm schlaflose Nächte. Der 58-jährige Forstwirt ist seit Ende 1996 Direktor des "Project Tiger". An seinem Schreibtisch in New Delhi verwaltet er betulich den Untergang der Streifenkatze. Die Schuld sucht Sen, der auf keiner internationalen Artenschutzkonferenz fehlt, allein bei anderen: "Wir koordinieren nur auf nationaler Ebene und verteilen staatliche Mittel. Für das Management des Tigers und der Tiger-Reservate sind die Regierungen der Bundesstaaten verantwortlich."
Wo die "600 bis 700 Millionen Dollar" abgeblieben sind, die "Project Tiger" laut Sen seit 1973 für die Erhaltung des Tigers ausgegeben haben will, kann oder will der Bürokrat nicht sagen. Nach Überzeugung des Londoner Kunsthändlers und Tigerschützers Michael Day hätte man allein mit dieser Summe die Großkatze in allen 27 indischen Reservaten etwa 250 Jahre lang optimal bewachen können.
Day hat errechnet, dass eine mit allen technischen Schikanen wie Infrarot-Nachtsichtgeräten ausgerüstete und erstklassig bezahlte Anti-Wilderer-Eliteeinheit von 30 Mann Anfangsinvestitionen von etwa 100000 Dollar erfordert. Dazu kommen pro Jahr weitere 100000 Dollar für Gehälter, Pensionen, Versicherungsprämien und Gefahrenzulage. Von siebenjährigem Kampf gegen indische Windmühlen gesundheitlich zermürbt, kehrte Day im vergangenen Jahr seiner Organisation "Tiger Trust" den Rücken.
TIGER-TOTENGRÄBER Sen mag ein Meister der Ausrede sein; zumindest eines seiner Argumente scheint jedoch stichhaltig: Das arme Indien ist von den im Geld schwimmenden amerikanischen und europäischen Tierschützern im Stich gelassen worden. "Seit Beginn der Tigerkampagne haben internationale Tierschutzorganisationen über fünf Milliarden Dollar mit dem Versprechen gesammelt, den Tiger zu retten. Bei uns hier in New Delhi aber landen nur Peanuts. Auch der WWF, das Flaggschiff des Artenschutzes, hat seit 1973 nur 2,6 Millionen Dollar überwiesen - nicht mal 100 000 Dollar pro Jahr."
Beim Versuch, diese Zahl zu verifizieren, bekam der stern von diversen Quellen beim WWF (Slogan: Wenn wir den Tiger nicht retten können, was können wir dann retten?) sehr unterschiedliche Summen präsentiert. Chris Hails, Programmdirektor des WWF International im schweizerischen Gland, erklärte, der WWF habe in den letzten 39 Jahren für Tigerprojekte weltweit umgerechnet rund 58 Millionen Mark ausgespuckt. Das sind gerade mal acht Prozent der Einnahmen des Jahres 1999, die sich auf 343 Millionen Dollar beliefen. Laut Hails machte der WWF 1999 für den indischen Tiger 1,4 Millionen Mark locker - 0,2 Prozent der Jahreseinnahmen.
EXTREM KNAUSRIG findet das Valmik Thapar, selbst im Kuratorium des WWF India. "Der WWF nimmt mithilfe des Tigers gigantische Summen ein. Er sollte ganz erheblich mehr für Indien springen lassen."
Von 1993 bis 1997 sah der WWF International untätig zu, wie sein indischer Ableger den Tigerschutz eher behinderte als förderte. Fünf entscheidend wichtige Jahre - die Zeit, in der die Wilderer und Holzdiebe die Kontrolle in den Reservaten übernahmen. Das Schicksal eines vom WWF Schweden gestifteten Jeeps ist typisch für die "Arbeit" des WWF India: Das Fahrzeug wurde nicht wie vorgesehen zur Wildererbekämpfung im Reservat Ranthambhore eingesetzt, sondern am Tag nach der feierlichen Übergabe nach New Delhi gefahren, wo es der Gattin des WWF-Generalsekretärs Samar Singh zum Shopping diente.
Erst 1997 zog das WWF-Mutterhaus durch Gründung des "Tiger Conservation Program" den Tigerschutz an sich, und Samar Singh wird am 1. Juli abgelöst. "Da muss sich sehr viel ändern", wettert Thapar. Und Michael Day wünscht sich, dass der WWF "etwas Handfestes unternimmt und mit den nebulösen Wischiwaschi-Aktionen aufhört. Es muss endlich einer aufstehen und auf den Tisch hauen, statt brav und systemkonform zuzusehen, wie der Tiger ausstirbt".
Als reiche und mächtige globale Organisation könnte der WWF nicht nur jenen "unbekannten Helden an der Tigerfront" (Ashok Kumar) wie dem Waldhüter Ravi Shukla unter die Arme greifen, sondern auch politischen Druck ausüben. Denn solange der politische Wille fehlt, den Tiger zu retten, besteht kein Fünkchen Hoffnung für die schöne Katze.
"Die Politiker wollen, dass der Tiger ausstirbt", sagt Michael Day. "Denn wenn er verschwunden ist, können sie ungestört die Edelhölzer und Bodenschätze aus den Reservaten holen und versilbern." Um ihre Säckel zu füllen, sind viele korrupte Landespolitiker unheilige Allianzen mit Freischärlern eingegangen. Die wiederum kooperieren eng mit den Verbrechersyndikaten, die mit Holz, Waffen, Drogen sowie Fellen und Tigerknochen dealen.
DAS PRINZIP IST SIMPEL, aber effektiv: Die meist kommunistisch angehauchten Freiheitskämpfer sprengen die Jeeps der Wildhüter mit Minen in die Luft, bis sich die Guards nicht mehr in den Wald trauen. Dann können die Marihuana-Farmer, Teakdiebe und Wilderer ungestört ihrem Geschäft nachgehen. Das wiederum zahlt sich für die Partisanen aus: Ein Teakbaum bringt laut Bittu Sahgal den Gegenwert von vier Kalaschnikows.
Mit neun indischen Nationalparks steht schon ein Drittel aller Tigerreservate zum größten Teil oder vollkommen unter der Kontrolle der Guerilleros. Aber das ist erst der Anfang. "Die Freischärler haben bereits jeden einzelnen der elf Nationalparks und alle 31 Wildschutzgebiete von Madhya Pradesh infiltriert", sagt der frühere Armee-Hauptmann Navneet Singh, Direktor des "Royal Tiger Resort" im Kanha-Reservat. "Der Holzeinschlag hat extrem zugenommen." Nach Auffassung von Bittu Sahgal wird sich Indien bald nicht nur mit kaputten Restwäldern und einem ausgestorbenen Tiger konfrontiert sehen, sondern "mit einem inneren Sicherheitsproblem von albtraumhaften Ausmaßen".
Während die schoßhundzahmen indischen Tierschützer, die sich naht- und klaglos in das "korrupte und unfähige System des Project Tiger" (Vivek Menon) einfügen, und die zahllosen Trittbrettfahrer in aller Welt gut vom sterbenden Tiger leben, kündigt sich auf dem Subkontinent nicht nur eine sicherheitspolitische, sondern eine ökologische und soziale Katastrophe an. Denn ohne die Tigerwälder wäre Indien verloren.
"In den Forsten der Schutzgebiete entspringen 300 Flüsse - fast alle größeren und wichtigen Wasserläufe Indiens", sagt Thapar. "Ginge es nach der Großindustrie und den Politikern, wären die Wälder längst abgeholzt und die Tiger ausgelöscht. Wenn wir aber keine Tiger mehr hätten, würde in Indien auch kein einziger Baum mehr stehen, die Flüsse wären ausgetrocknet und Millionen Menschen verdurstet."
Vielleicht ist der von Thapar beschworene Tag des Jüngsten Gerichts näher als all jene glauben, die der Streifenkatze nach dem Leben trachten, obwohl sie indirekt von ihr am Leben erhalten werden. Denn es ist absolut ungewiss, ob es in Indien wirklich noch 2000 Tiger gibt.
ALLE TIGERDATEN beruhen nämlich auf der vorsintflutlichen "pugmark method": Wildhüter legen eine Glasscheibe auf einen im Staub entdeckten Fußabdruck und malen mit Filzstift die groben Umrisse der Tatze auf einer Art Butterbrotpapier nach - Kinderkram im digitalen Zeitalter. Aber das "unglaublich ungenaue Verfahren" (Thapar) hat Vorteile: Es lässt der Fantasie reichlich Spielraum und ermöglichte den Glauben an die astronomischen Zuwachsraten von bis zu 500 Prozent pro Jahr, die in der Anfangszeit von "Project Tiger" gefeiert wurden. Selbst kerngesunde Tigerbestände mit reichlich Beute wachsen pro Jahr nur um etwa sechs Prozent.
Der indische Wildbiologe Dr. Ullas Karanth prüfte das Pfotenabdruck-Verfahren, auf dem alle indischen Tigerstatistiken beruhen, wissenschaftlich auf Herz und Nieren. Er machte sich Sorgen, dass die "pugmark method" eine illusorisch große Raubkatzenpopulation vortäuschen und damit zu völlig falschen Schlüssen über den tatsächlichen Bedrohungsgrad der Tiger führen könnte.
Karanth unterzog die sechs führenden Tigerzähler einem Test. Die Kapazitäten mit bis zu zwölf Jahren Schätzpraxis mussten Fährten auswerten, die von vier Zootigern stammten - was die Fachleute nicht wussten. Das Ergebnis der Spurenanalyse war katastrophal: Die fünf Herren - der erfahrenste Experte kniff kurz vor Beginn des Experiments - konnten keinen einzigen Tiger identifizieren. Übler noch: Die von ihnen ermittelten Tigerzahlen waren extrem übertrieben - um bis zu 500 Prozent.
TIGERSTATISTIK - Traurige Bilanz
Alle Zahlen über den Bestand an Tigern sind mehr oder weniger ungenaue Schätzungen. Von den rund 100000 Tieren, die es noch um 1900 gab, leben laut Statistik des WWF noch etwa 5000 in 13 asiatischen Ländern und Sibirien. Es handelt sich um jämmerliche Reste einer Population, die bald ganz aussterben wird: In vier Ländern kümmern weniger als 100 Tiger dahin, in neun weiteren maximal 650. Indien ist mit etwa 2000 Streifenkatzen wichtigstes Tiger-Land.
Graphik: Kaum Schutz in den Schutzgebieten
HÖLLENQUALEN
Drei Tage lang steckte die linke Vorderpfote der jungen Tigerin in der Schlagfalle, Tausende Dörfler gafften. Dann wurde der brandiggewordene Lauf abgehackt. Jetzt hockt das Tier als Krüppel in einem primitiven Gehege des Zoos von Raipur.
Schändliche Schmuggelladung - AUSLEGE-WARE
Drei Tigerfelle und 50 Leopardenpelze wurden Ende 1999 in Ghaziabad konfisziert. Der Lkw mit Wildererbeute, bei einer Routinekontrolle zufällig gestoppt, war auf dem Weg zur Grenze. Die frischen Häute zeigten kein Einschussloch - die Katzen waren vergiftet worden
Nichts als Hokuspokus bei der Zählung der großen Katzen - GIPSFUSS Mit primitiven Mitteln versuchen die Wildhüter im Nationalpark Panna ihre Tiger zu zählen. Finden sie eine Pfotenspur im Staub, fertigen sie einen Abdruck an. Doch zum Katzenzensus sind solche "Skulpturen" wertlos: Gleich große Tiere haben identische Tatzen. Wildhüter Ramakant Tripathi vom Panna-Reservat zeigt den amtlichen "Fingerabdruck" eines Tigers. Die grob gekritzelten Pfotenumrisse sind jedoch völlig ungeeignet, um einzelne Tiere auseinander zu halten und statistisch zu erfassen
Diamantenfieber m Reich der schönen Bestien - NATURFRASS Beim Tigerreservat Panna buddelt der indische Staat nach Edelsteinen.
TIERANWALT
Acht Bücher hat Valmik Thapar über Tigerschutz geschrieben. Seit einer Razzia gegen Holzdiebe 1991 ist der Wildhüter Ravi Shukla unschuldig wegen Mordes angeklagt. Für Bestechung und Anwalt ging seine letzte Rupie drauf - niemand unterstützt ihn.
STERN #26 v. 13.7.2000 / Tigerhome